Mittwoch, 23. Mai 2012

Frachtschiff Ahoi – Für 8 Tage alle Zeit der Welt


[Von New York nach Rotterdam]

Grosse grau-blaue, gekrauste Weite, strahlende Sonne, die schiere Unendlichkeit greifbar am Horizont und alle Zeit der Welt… Eine Frachtschiffreise ist ein einmaliges Erlebnis und der perfekte Abschluss für meine Reise. Die Buchung durch www.globoship.ch ist unkompliziert und es wird auf meine Wünsche und Vorstellungen eingegangen. Klar, ist das ganze kein günstiges Unterfangen (mit durchschnittlich 144 CHF/Tag), aber dafür ein umso exklusiveres. Fernab von Zeitgefühl, Hektik und Sightseeing, bleibt mir fast unendlich Raum, mein vergangenes Jahr Revue passieren zu lassen, meine Erkenntnisse aufzuschreiben und eine ruhige Heimreise zu geniessen…
Am Hafen…
..auf See und bei..
..Sonnenuntergang
Zwei ältere Griechische Hafenarbeiter mit grosser Brille holen mich am 14.05.12 ab und im Auto unterhalten wir uns über die guten, alten Zeiten in Griechenland… Als ich dann noch mit meinem bescheidenen Griechischen Vokabular „Malaka“ (als ein Autofahrer waghalsig überholt) und „Efcharisto Poli“ (beim Verabschieden) auftrumpfe, sind wir bereits beste Freunde…
Am Hafen von New York…
…das Abenteuer kann beginnen
Der Baer, manchmal auch Captain Morgan genannt ;-), begibt sich voller Erwartung an Deck. Thomas, der Deutsche Apprentice, hilft mir beim Hochtragen meiner Shoppingeskapaden aus New York. An Bord der MV Hyundai Tianjin werde ich vom 2nd Officer empfangen und von June, dem Steward (beide sind Philippiner) in meine Kabine, der „Owner’s Representative A“ auf Deck G begleitet. Draussen auf der Ladefläche herrscht Hochbetrieb. Zwei riesige Hafenkrane Schichten Container an Deck, während kleinere, mobile Krane abwechslungsweise Container bereitstellen, die sie vom unendlichen Containerlager im Hafen nach irgendeiner ausgeklügelten Logik herbeiholen. Das fleissige Treiben erinnert an einen Ameisenbau. Der Hafen in New Jersey/New York ist nach seiner Fläche der grösste Hafen der USA.
Container werden geholt…
…und auf Deck verfrachtet
Im Treppenhaus begegne ich dem Deutschen Kapitän Michael Simon, der mir auf Anhieb sehr sympathisch ist und mir einen guten Aufenthalt wünscht. Ich muss leider eben doch klein beigeben, dass ich nicht der „richtige“ Kapitän bin (auch wenn Captain Morgan naheliegend ist). Auch der Rest der Crew ist total locker drauf und wir werden noch eine super Zeit miteinander verbringen. Da ist Chief Engeneer Volker (während er im lauten, heissen Maschinenraum das Herz des Schiffes ist, ist der Kapitän auf der Brücke das Gehirn – ein super funktionierendes Team), 3rd Engeneer Toni und 2nd Engeneer Fabian (ebenfalls im Maschinenraum und gelegentlich auch im Officers‘ Recreation Room beim Bier anzutreffen), Thomas der Apprentice, sowie Alexandra (Praktikantin oder „Spionin“ aus dem Büro und die einzige Frau an Bord) und nicht zu vergessen Julius der Koch (mitunter das wichtigste Crew-Mitglied). Bis auf den Koch sind alles Deutsche. Mit dem Rest der total 22 Crewmitglieder komme ich weniger in Kontakt.
Captain Morgan an Bord
Anderes Schiff beim Auslaufen
Für die Zeit auf See habe ich ein Wohnzimmer (so gross, dass ich hier mit meiner ganzen WG eine Party veranstalten könnte) mit Kühlschrank, Sofas, Clubtisch und TV, ein Schlafzimmer mit King-Size Bett (und zwei Kissen – yeeah), sowie ein eigenes Badezimmer. Alles ist sehr sauber und extrem luxuriös für meine Backpackerverhältnisse. Selbstverständlich habe ich von meiner Kabine (die direkt unter der Brücke ist) freien Blick nach Vorne – so kann ich wenigstens im stillen Kämmerchen Kapitän spielen.:-) Zu den weiteren Features an Bord der Tianjin gehören ein kleiner Fitnessraum, eine Sauna, ein Tischtennis- und Aufenthaltsräume mit TV, Bar und Karaokestation, ein Raum mit Schwimmbad und ein Raum mit Waschmaschine. Am Bug des Schiffes befindet sich ein gemütliches Deck mit Liegestühlen.
Luxuriöses Wohnzimmer…
…Schlafzimmer+Klo
Orientierung
Alles, was ein..
..Mann braucht!;-)
Etwas später kommt Mike aus den USA an Bord, der seine Europareise mit dem Frachtschifferlebnis beginnt und schon bald ist es Zeit zum Abendessen. Um 23.00 Uhr klingelt das Telefon in meiner Kabine. Der Kapitän lädt uns ein, auf die Kommandobrücke zu kommen, um das Auslaufen des Schiffes hautnah mitzuerleben. Endlich darf Mr. Morgan auf die Brücke.:-) Einen Moment, den ich nie vergessen werde! Mike und ich stehen draussen über dem Navigation-Deck (also ein Stock über der Brücke, das über eine steile Leiter zu erreichen ist), vor uns die beleuchtete Hafenanlage, im Hintergrund Lichter von Manhattan und das Frachtschiff, das sich langsam dreht, um in See zu stechen. Wir passieren eine Brücke, die in ihrem höchsten Punkt nur wenige Meter höher ist, als das Schiff. Ohne die Kommunikationsantennen und Radar zu knicken kommen wir unten durch. Wir geniessen eine Weile die unbeschreibliche Aussicht und die vorbeiziehenden Lichter, bevor ich in meine Kabine gehe und total happy über meine bevorstehende Reise, vom leichten Schwanken des Schiffes in den Schlaf gewiegelt werde.
Mike+ich werden auf die Brücke eingeladen
Richtiger Kapitän bereitet das Auslaufen vor

Falscher Kapitän post derweil auf der Brücke
Einmaliger Moment
Rechtzeitig zum Sonnenaufgang wache ich am 15.05.12 auf, um ein paar Fotos zu schiessen, bevor ich mich nochmals aufs Ohr lege, bis ich vom Steward zum Frühstück geweckt werde. Danach erhalten wir vom 2nd Officer eine Einführung in Sicherheit- und Notfallprocedures und werden auf dem Schiff herumgeführt. Die 249m lange und 32m breite MV Hyundai Tianjin hat Baujahr 2006 und Platz für 4300 Container. Während die Crew am Arbeiten ist, habe ich viel Zeit zum Chillen, Lesen, Blognachschreiben, meine Erlebnisse revue passieren zu lassen, im Fitnessraum meinen Appetit anzuregen (ich muss ja schliesslich Hunger für drei Menus am Tag haben), die Chillout CD fertig zu mixen und und und… Quality time par excellence!
Mit Koch und Steward
Ohne Kate und Caprio
Sonnenaufgang in Fahrtrichtung
Sonnenuntergang auf Achter

Ein Highlight meiner Reise beginnt schon am 16.05.12, wo wir mit den Offizieren, Engeneers und Apprentice auf dem F-Deck eine kleine Afterwork-Party zum Sonnenuntergang starten und danach im Officers‘ Recreation Room weiterfeiern. Mike und ich erleben einen sehr unterhaltsamen Abend, wobei der Kapitän Barkeeper und DJ spielt, ein Haufen Seemannswitze und andere Insider-Geschichten erzählt werden und wir einen guten Einblick ins Seefahrerleben erhalten. Die Leute hier an Bord sind alle sehr nett und offen zu uns – ich bin auf dem richtigen Schiff, mit der richtigen Crew gelandet! Kapitän und Chief Engeneer witzeln ständig darüber, wer jetzt die Nummer Eins an Bord ist. Wäre der Chief Engeneer fürs Navigieren verantwortlich (was aus seiner Sicht ja einfach ist), würde er, so meint der Kapitän, einfach mal drauflos fahren und beim erstbesten Hafen in der Bäckerei Brötchen kaufen gehen. Auf der Tüte vom Bäcker würde er dann von der Adresse der Bäckerei herleiten, wo wir gelandet sind. Wäre der Kapitän im Maschinenraum, so kontert der Chief, würde erst mal gar nichts laufen, weil das Starten der Maschine nicht einfach ist. Selbst Mike und ich kommen nicht ungeschoren davon. Uns werden mehrere hundert Dollar geboten, wenn wir es schaffen würden, die Maschine zu stoppen (wie wir später heraus finden geht das mit einem Knopfdruck von der Brücke aus) und zu starten (ein aus meiner Sicht unmögliches Verfangen, wie wir im Maschinenraum noch sehen werden). Ach ja… und dann bekomme ich noch das Angebot vom Abend: Der Chief Engeneer bietet mir unwiderstehliche 1000 Dollar, wenn ich mir eine Glatze rasiere. Ob ich darauf eingegangen bin, seht ihr dann, wenn ich wieder nachhause komme… ;-) Tags darauf (am Donnerstag ist Seemannssonntag) stehen Mike und ich erst zum Mittagessen auf, da die Party doch etwas länger gedauert hat. Anschliessend trifft man sich erneut im Aufenthaltsraum zu Piratengeschichten, Dance Musik und Hopfentee! Das Feiern geht weiter… bis sich die Party am Nachmittag so langsam auflöst.
Official Tianjin Partycrew
1000 Dollar-Haare ab?

Die restlichen Tage bis zum Einlaufen im Hafen von Rotterdam sind ruhig, so wie ich mir es vorgestellt habe. Manchmal sonnig, manchmal neblig, schöne Sonnenunter- und Aufgänge und sogar ein paar Möwen, die sich weit aussen im Meer verirrt haben. Täglich wird die Uhrzeit um eine Stunde vorgestellt, um unsere Uhren an Rotterdam anzugleichen (praktisch, somit bleibt mir der Jetlag erspart).
Mal Sonnig…
…mal Regen..
..mal Abend..
..mal Nebel (reimt sich) :-)
Nebst dem leckeren Essen gibt es ab und zu weitere Highlights, wie Führung durch den riesigen Maschinenraum mit der 8-Zylinder Maschine, die ohne Getriebe mit dröhnenden 80 Umdrehungen pro Minute die immense Schiffsschraube antreibt, damit wir unsere ca. 20 Knoten halten. Wenn man es nicht selber gesehen hat, wird man es wohl kaum glauben, dass die Maschine, Pumpen, Hilfsgeneratoren, Wasseraufbereitungsanlage etc. und sogar eine kleine Kehrichtverbrennung eine ganze Halle über mehrere Stockwerke füllen (im Innenraum auf Achter, das ist die Hinterseite des Schiffes). Der Chief Engeneer erklärt uns den Kontrollraum, die Maschine und alle anderen Geräte, die wohl eine ganze Kleinstadt unterhalten könnten. Ich muss zugeben, dass ich nicht im Stande wäre, die Maschine zu starten. Aber Captain Morgan gehört ja auch auf die Brücke.
100 Knöpfe Kontrollraum
8 Zylinder Maschine
Chief in Pose
Daily life@Maschine
Sightseeing@Deck?
Auf dem Navigationsdeck beim Kapitän, wo wir auch jederzeit willkommen sind, haben wir die beste Aussicht auf das endlose Blau, die Container und an einem Abend sehen wir sogar Delfine, die mit uns mit schwimmen. Am Mittag des 20.05.12 klingelt abermals das Telefon in meiner Kabine und der Chief Engeneer lädt uns in den Aufenthaltsraum ein, wo mit der Crew eine weitere kleine Party stattfindet.

Ein paar Tage vor Einlaufen in Rotterdam wird die Geschwindigkeit auf 15 Knoten gedrosselt, damit wir zur richtigen Zeit am 23.05. um 05 Uhr morgens den Zielhafen erreichen. Je näher wir dem Festland kommen, desto mehr Schiffe sind um uns herum. Mit dem Radargerät auf der Brücke können diese sogar mit Details, wie Zielhafen identifiziert werden. Gespannt erwarte ich den Morgen des 23.05.12, wo ich um 04.20 aufstehe, um auf die Brücke zu gehen, damit ich das Einlaufen hautnah miterlebe. Noch sind nur ein paar Lichter im Nebel und der Dunkelheit des Morgens erkennbar. Über Funk kommen Anweisungen herein. Etwas später nähert sich uns ein kleines Schiff, das einen Lotsen an Bord bringt. Die ersten Hafenkrane (und ach so stereotypisch für Holland Windräder) tauchen aus dem Nebel auf, während hinter uns die Sonne langsam aufgeht. Um etwa 06.10 Uhr kurven wir dann Richtung Hafen, wo ich vor sieben Jahren bei meinem Auslandssemester in Holland mal gestanden und den Schiffe die einliefen zugeschaut habe. Damals war unsere Tianjin noch nicht im Wasser und ich hätte mir nicht gedacht, dass ich auf diesem Wege mal von einer Weltreise zurückkehren werde…

Der Hafen von Rotterdam ist supermodern. Führerlose Carrier fahren die Container herum, die von ebenfalls computergesteuerten Kranen in ihre Stellplätze gehievt werden. Vier grosse, bemannte Lastkrane machen sich an der Ladung unseres Schiffes zu schaffen, während die freundliche Immigrationsbeamten an Bord unsere Pässe kontrollieren. Nach dem Mittagessen und dem Verabschieden von der Crew werden wir vom Taxi abgeholt und ich freue mich, meinen Fuss auf niederländisches „Heimatsgebiet“ zu setzen…
Vollste Konzentration beim Einlaufen..
..in den „Cyber“-Hafen von Rotterdam
 “Once you have traveled, the voyage never ends, but is played out over and over again in the quiestest chambers. The mind can never break off from the journey.” – Pat Conroy
 Cheers
Alex

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